Die leuchtend gelben Blätter von Nussbaum und Ginko hielten in diesem Jahr besonders lange aus und wollten sich von ihren Bäumen kaum trennen. Eine kältere Nacht führte nun vor kurzem dazu, dass alle Blätter gleichzeitig fielen und es beinahe ohne Übergang plötzlich kahl im Garten wurde.
Jetzt ist es tatsächlich November geworden, so, wie man ihn kennt. Jetzt müssen wir es uns drinnen wieder gemütlich machen. Bis vor ein paar Tagen badeten die Spatzen noch zu Fünfzehnt in ihrer Wanne aus Stein, ein letztes Mal und alle gleichzeitig. Sie veranstalten jedes Jahr zum Abschluss der Badesaison, solch ein Fest. Alle unsere Vögel kommen dann zusammen, stellen sich an, warten, bis sie an der Reihe sind und steigen hinein. Dann spritzen sie nur so um sich und haben offenbar einen riesen Spaß dabei, so dass das Badewasser laufend ergänzt werden muss. Ich wundere mich nur darüber, dass die Vögel es im Sommer scheinbar weniger nötig hatten, sich zu erfrischen, als jetzt, wo die Temperaturen doch seit einigen Tagen schon sehr viel ungemütlicher geworden sind. So denke ich, hat es tatsächlich mit der Reinigung zu tun und damit, das Gefieder nach dem Bade ordentlich zu putzen und schön einzufetten, damit der Winter kommen kann. Sie futtern jetzt auch extrem viel und bevorzugen unsere, extra für sie geknackten Nüsse, vom eigenen Walnussbaum.
Wenn es mich bei Nieselregen und ungemütlichen Temperaturen im Minusgradbereich irgendwann doch nach Farben dürstet, habe ich das dringende Bedürfnis meine ehemalige Gärtnerkollegin Margit auf ihrer Arbeitsstelle im Berliner Umland zu besuchen, denn dort gibt es, obwohl draußen alles frostig Grau ist, Farbesatt anzuschauen. Die schönsten Blumen stehen hier in einer kühlen Halle und warten auf Blumenbinder und Floristen, die dann aus ihnen die prachtvollsten Sträuße binden. Margit inhaliert also den ganzen langen Arbeitstag über sozusagen, Schönheit pur. Doch ab und an braucht sie eine Rauchpause und dann ist meine Gelegenheit für eine kurze Stippvisite gekommen. Die Blumen sind fast alle ohne eine Spur von Duft, den haben sie leider der Pracht und Größe ihrer Blüten opfern müssen, aber sie leuchten dafür in den herrlichsten Farben. Nach ihnen sortiert stehen sie in ihren Kübeln und diese Farbenpracht, die in allen Schattierungen des Regenbogens leuchtet, fasziniert mich total und ich sauge alle diese Farben förmlich auf.
Ich habe schon oft während meiner Besuche gedacht, wie meine Freundin da so inmitten dieser blumigen Pracht zugange ist und all diese schönen Gestalten unter ihrer Obhut hat, das ist faszinierend und erinnert mich in gewisser Weise, an die Göttin FLORA, die in ihrem Reich alle Pflanzen unter sich hat und diese hegt und pflegt und behütet. Naturhistorisch betrachtet, wird nach ihr der gesamte Reichtum an grünen Gewächsen auf unserer Erde benannt. Margit kenne ich seit Jugendtagen, als wir beide noch als Junggärtner im Potsdamer Umland arbeiteten. Während ich die Sparte wechselte, blieb sie den Pflanzen treu, heute steht sie im Blumengroßmarkt ihren Mann und kann kräftig zupacken, wenn es sein muss. Ihre Hände und die ganze Erscheinung sprechen davon. Der Gedanke, mich mit dem Bild der FLORA auseinandersetzen zu wollen, kam mir in den Sinn, als sich mir ein Kontrast zwischen den üppigsten Rosengebinden in sämtlichen Farben einerseits und der leisen Melancholie meiner Freundin andererseits, offenbarte.
Gehüllt in eine robuste Arbeitskleidung – warmes, grobes Hemd mit wollener Jacke darüber, entspricht meine Gärtnerfreundin der idealisierten, geschönten und langweiligen FLORA nämlich überhaupt nicht. In sämtlichen bildkünstlerischen Darstellungen wird ja eigentlich immer eine, mit dem Frühling assoziierte, liebreizende und leicht bekleidete, jugendlich anmutende Frau mit Blüten im Haar gepriesen, die besonders den Anforderungen bedürftiger Männerherzen entspricht. Für die schon etwas reifere Frau, nachdenklich, lebenserfahren und mutig sich ihrer Haut erwehrend, ist da kein Platz. Es geht ihr ähnlich so, wie der Werderaner Baumblütenkönigin, die auch nur ganz jung an Jahren sein darf. Mir macht es von daher eine große Freude jegliche Erwartungen zu unterwandern, um bei der Gestaltung meiner FLORA nun, beherzt all die überholten Klischees, links liegen zu lassen.
Wenn meine Freundin ihre Rauchpause genießt und der Zigarettenstummel in ihrer rechten Hand das Ende derselben signalisiert, der nächste Kunde ihre Aufmerksamkeit einfordert und meine Freundin kompetent und souverän, wie immer mit einem lustigen Spruch auf den Lippen gelassen und geduldig bleibt, dann spüre ich, wie wichtig Menschen und ein freundliches Miteinander für sie sind. Derart bodenständig veranlagt, war sie denn auch überhaupt nicht erpicht darauf von mir ins Visier genommen und portraitiert zu werden, im Gegenteil. Ich musste lange warten, bis der rechte Zeitpunkt gekommen schien, und sie sich endlich damit abgefunden hatte, da nicht drum herum zu kommen. Tatsächlich wehrte sie sich, bald 7 lange Jahre schon dagegen, von meinem künstlerischen Blick vereinnahmt zu werden, aber nun war es endlich soweit. Eine kleine Zeichnung von 2011 lag schon seit langem bereit, dazu kamen nun noch zwei neuere, die ich auf ihrer Arbeitsstelle während der erwähnten Rauchpause machen konnte, ergänzt von einer, aus mehreren Fotos bestehenden Fotostrecke. Margit frontal mit Brille und ohne, mal im Profil von der Seite, mal ernst, mal lächelnd, ihr Gesicht mehr von unten oder mehr von oben – jetzt hatte ich genug „Material“ beisammen und nun gab es kein Halten mehr, ich konnte endlich mit der Arbeit beginnen.
Wenn ich mein Thema gefunden habe und die Person schon längere Zeit kenne, geht es meistens recht schnell. Erst baute ich in groben Zügen den Torso auf, wobei frühere Erinnerungen und heutige Erfahrungen gleichermaßen in meine Hände flossen und die grobe Form beinahe ganz von allein bestimmten und dann widmete ich mich den Einzelheiten. Diesen unterbewussten Prozessen des Findens zu trauen und diese, ohne jeden Druck zuzulassen, ist eine Gabe.
Margit gab mir schließlich ihr o.k. unter der Bedingung, ihre Brille bitteschön wegzulassen. Wir kennen das von Fotos, die wir, wenn wir uns darauf abgebildet sehen, mitunter viel zu kritisch als nötig betrachten. Ihre Befürchtungen ignorierte ich, ließ die Brille aber tatsächlich weg. Jeder Mensch hat schließlich seine ureigenen Schwachstellen, die heute vielleicht enorm wichtig erscheinen und morgen niemanden mehr interessieren. Nach solchen Kleinigkeiten suche ich auch nicht, sondern trachte danach, die Einmaligkeit jedes Menschen und das Besondere, das ihn jeweils ausmacht, zu ergründen. Es geht mir immer um den Kern der Persönlichkeit und diesen lege ich frei und arbeite ihn heraus. Ich verachte das Bemühen um Ähnlichkeit nicht, auch ich versuche es so gut, wie möglich hinzubekommen, dies aber ohne jeden Druck! Deshalb arbeite ich gern an zwei Figuren gleichzeitig, so beiße ich mich nie fest und der Blick bleibt frei. Und manchmal hilft mir auch mein Freund Zufall. Er mischt sich mitunter ein, wenn ich bereits unterschwellig weiß, dass ich ein Problem habe. So muss es auch bei der FLORA geschehen sein, als er dafür sorgte, dass sie mit ihrer gesamten Vorderfront in meiner Werkzeugablage gelandet ist.
Ich bin dankbar, dass dies passierte, wenn ich auch zuerst recht bedeppert geschaut haben muss!
Aber der allzu perfekte Zustand, den meine FLORA Anfangs aufzuweisen hatte und der mir suspekt erschien, der war mit einem Schlag in sein Gegenteil verkehrt worden. Und ich sah sofort, nachdem ich die Tante vorsichtig angehoben und zurück auf ihre Gipsplatte gestellt hatte, dass das Malheur nur als ein solches getarnt – ein Angebot gewesen ist! Ich brauchte nur von innen wieder ein wenig gegenkloppen – ganz vorsichtig, um die Arbeit des lieben Freund Zufall bloß nicht zu zerstören – und gut. Das leicht Schräge, das nach dem Aufprall in ihrem Gesicht jetzt auffällt, steht ihr gut und ergänzt zudem das, einer FLORA eigentlich nicht zugehörige Utensil, diesen krummen, komischen Zigarettenstummel in ihrer, vom Aufschlag ebenfalls leicht verdrehten Hand!
Der geneigte Betrachter wird sich zwar wundern und sich fragen, woher wohl die Abdrücke in ihrem total abgeflachten Pony herrühren, er wird aber auch das Rosige, Frische in ihrem Gesicht bemerken und er wird das Grün in ihren Haaren als nicht störend empfinden, weil es genauso sein muss! Auf ihrem Kleid trägt sie herbstliches Laub, statt Blümchenmuster, ein Füllhorn hat sie auch nicht dabei. Dafür die Kippe! Blumen gebe aber auch ich ihr mit auf den Weg. Poppig und Knallig will ich sie haben, auch wenn Margit Pastellfarben lieber mag. Sie sagt, sie liebt die lachsfarbenen Sorten unter den Blumen, auch Altrosa darf es sein, nur nicht dieses scheußliche Pink. Früher war das nicht so, sagt sie, es wird wohl an den Wechseljahren liegen…
Mir muss das egal sein! Darauf kann ich keine Rücksicht nehmen. Ich möchte, mit den mir zur Verfügung stehenden Mitteln, der lebendigen Kraft Ausdruck verleihen, die ich mit meiner Gärtnerfreundin in Verbindung bringe. Bei der qualmenden FLORA ist mir nur zweitrangig wichtig, der Realität entsprechen zu wollen, um ein naturgetreues Abbild geht es mir nicht. Nie kann der Künstler die Natur kopieren, nie kommt er in Gänze an das lebendige Original heran! Er muss etwas Neues schaffen. Vielleicht wird FLORA, mit etwas Glück, ein Kunstobjekt, das spricht!
So, wie ja all die anderen tönernen Protagonisten aus meiner staubigen Werkstatt es scheinbar tun, wenn sie sich in ihren Regalen und auf Sockeln stehend, miteinander zu unterhalten scheinen. „Ilse“ Beispielsweise, meine betagte Nachbarin, deren Konterfei wirkt in sich gekehrt und scheint auf etwas zu warten. Die Keramische Plastik des Malers Arno Rink hingegen, durcheilt leicht rückwärtsschauend nach vornehastend, meine Räume. Der Grafiker Horst Janssen hält auf seinem Sockel einen Monolog, während die Xanthippe kämpferisch ihre Hörner zeigt. Nur die alte Tänzerin schaut mir interessiert bei meiner Arbeit am Ofen zu. Sie sieht vorbei an dem erfolgreichen Galeristen ihr gegenüber, der Eier in sämtlichen Sorten und Größen bebrütet.
Wenn nun bald die liebenswert schräge, qualmende und ungewöhnliche FLORA dem Betrachter ihrerseits ein Lächeln ins Gesicht zaubert, habe ich mein Ziel erreicht.
Immer lieber Fragen aufwerfen, anstatt Antworten zu liefern!
Maren Simon am 24. November 2018