Alles Gute zu meines Vaters Geburtstag am 14. Februar. Ein Nachruf.

Mein Vater verstarb vor 27 Jahren binnen eines halben Jahres. Sein Ausfall als Familienoberhaupt riss eine große Lücke in unsere Familie. Ich bewahre sein Bild in meinem Innersten, er begleitet mich und mein Tun, denn mein Vater war zu seinen Lebzeiten gleichsam auf einer Wellenlänge mit mir, manchmal spreche ich mit ihm, wenn ich auf dem Friedhof bin.

Rudolf Gustav Sauer wurde 1934 in Hamburg geboren und seine Familie gelangte während der Kriegswirren nach Potsdam. Er studierte in Berlin das Fach Kunsterziehung, arbeitete als junger, diplomierter Lehrer an verschiedenen Schuleinrichtungen und war zuletzt als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Pädagogischen Hochschule Potsdam, dort im Bereich Kultur, tätig.

Ich habe meinem Vater vor allem zu verdanken, in mir die Liebe zur Kunst geweckt und diese immer auch unterstützt zu haben. Dank ihm bin ich bildende Künstlerin geworden. Sowohl meinem Vater, als auch dessen kunstinteressiertem Vater, meinem Großvater Gustav Sauer, war es nicht möglich, das künstlerische Potential, welches sie in sich trugen, weiter auszubauen. Mein Großvater blieb bis ins hohe Alter ein Hobbymaler, sein Sohn – mein Vater Rudi, wandelte eher auf kunsttheoretischen und kuratorischen Pfaden.

Dies tat er aber außerordentlich gewandt, denn das Wissen, welches er in sich trug, war äußerst breit gefächert und er erweiterte es ständig. Zusammen mit seiner erstgeborenen Tochter, also immer mit mir an der Hand, besuchte er die verschiedensten Ausstellungen von abstrakter und realistischer Kunst in Museen und Galerien und er liebte sakrale Bauten, auch dorthin nahm er seine Familie mit. Wie ein Schwamm saugte ich diese, alles Künstlerische begünstigende, früh-förderliche Atmosphäre in mich hinein und lernte spielend leicht Kunstwerke als solche zu erkennen und zu werten. Und so wusste ich schon damals, als kleines Mädchen, welches Bild ich liebte und welches eher nicht, und vor allem konnte ich auch erklären, warum.

„Maren liebt alle Tiere, besonders alle Hunde“… darum hatte ich meinen Lieblingshund portraitiert!

Vaters Arbeitsraum befand sich neben dem Keller unterm Haus. Dieser Raum verfügte über ein großes Fenster, welches sich auf einer Ebene mit dem Garten befand. Vaters Bücherregal dort war – neben dem Garten mit einem Loch im Zaun hinaus ins Freie – mein bester Freund in Kindertagen. Er selbst saß zu gern in diesem unteren Teil des kleinen Hauses, um dort ungestört lesen zu können. Er wusste, dass ich in seiner Abwesenheit seine Lesestube ebenfalls besuchte, denn ich stöberte gern und oft in den Regalen mit den dicken Kunstbänden. Wenn ich ein Buch nicht ordnungsgemäß zurückstellte, oder ein „Eselsohr“ hinterließ, bekam ich Ärger. Später saß auch mein Mann sehr oft mit ihm in diesem Kellerraum, da waren dann beide Männer ungestört unter sich, tranken manchmal ein Gläschen, rauchten und unterhielten sich dabei über Gott und die Welt. Jörn erinnert sich sehr gern an diese Momente.

Rudolf Sauer war die geborene „Lehrerpersönlichkeit“, war durch und durch Erzieher und ein souveräner „Persönlichkeiten-Entwickler“, auch zu Hause. Ich liebte, achtete und respektierte ihn und stand ihm immer sehr nah. Es war für uns Kinder besonders schön, wenn er neben der notwendigen Strenge auch ab und an seinem Humor freien Lauf ließ und alberne Späße mit uns und manchmal auch mit unseren Freunden machte. Einfallsreich und lustig konnte er sein, war oft auf unserer Seite, genau wie sein Vater es immer gewesen ist. Noch Jahre später nach Großvaters Tod fanden wir Schokolade aus Hamburg in Verstecken, die der Opa heimlich für uns angelegt hatte. Als Großvater Gustav starb, war ich fünf Jahre alt und ich erinnere mich noch sehr genau daran, genauso, wie an den Tod meiner Oma Emma, Mutters Mutter. Sie trug ihre langen Haare zu einem Dutt geflochten und benötigte, genau wie ich, nie einen Friseur. Diese beiden Alten waren mir sehr warmherzige, liebe Menschen, denn sie hatten das Wohl ihrer Familien, trotz aller erlittenen Strapazen in ihren Leben, nie aus den Augen verloren. Derart gut aufgehoben und angenommen, wie in meiner Kleinkindphase sollte ich mich nie wieder fühlen.

Als dann 1992 mit nur 58 Jahren mein Vater starb, brach für mich jener letzte Teil in der Familie weg, der die besondere Sprache mich der Welt mitzuteilen, verstand.

Im Frühling 1962 und danach notierte meine Mutter anfangs meine Fortschritte in einem DIN A5 Schulheftchen. Sie hatte wohl manchmal ein schlechtes Gewissen, weil mich meine Eltern wegen ihrer Arbeit in ihren Schulen vormittags des Öfteren allein lassen mussten. Die Beiden schrieben sich Notizen zu Fütterung und Verdauung auf Zettel – lauter Angaben, die der jeweils Übernehmende des Kindes brauchte. Meine Mutter hatte einige dieser Notizen all die Jahre für mich aufgehoben und gab sie mir später. Ich hatte den Umschlag mit der Loseblattsammlung dann fast vergessen, fand ihn jetzt wieder und bin ihr heute sehr dankbar dafür. In einer metallenen Kiste bewahre ich die mitunter recht lustigen, aber oft in Eile rasch hingeschriebenen Zeilen aus der frühen Zeit meiner Kindheit auf.

Sie schrieb liebevoll von jedem neuen Zähnchen, welches „ihr Mäusele“ bekam und hielt auf einer kleinen Zeichnung fest, wo und wie sie es taten. Ich lese all das mit Erstaunen. Ein kleiner abgerissener Streifen karierten Papiers gibt 1967 aber auch Auskunft über ihren Ärger, den sie offensichtlich empfand, weil Vater und Tochter damals schon „gemeinsame Sache“ machten: „Dass du und der Vati immer böse seid, das lasse ich mir auch nicht gefallen“, schrieb sie, da war ich fünf, und sicher war ihre Bemerkung einfach nur lustig gemeint, denn ich konnte ja noch nicht lesen. Ich brachte ihr zur Wiedergutmachung Blümchen aus dem Garten, wobei sie erfreut festhielt, wie gleichmäßig lang alle Stängelchen dieses kleinen Sträußchens von mir gepflückt worden waren.

„Pappili und sein Püppili“ machten indes offensichtlich das Beste aus allen, mitunter auch noch so vertrackten Situationen. Auf einem Stück Papier entschuldigt er sich für das „Schlachtfeld“, das wir hinterlassen hatten, bevor er mit mir zu einem Spaziergang aufbrach. Über diese Harmonie zwischen Vater und Kind hätte sich meine Mutter auch freuen können, denn meine Eltern, sie hatten zwar ein Kind, aber sie hatten dafür wenig Zeit (und für das zweite hatten sie dann noch weniger). Wir müssen aber lernen zu akzeptieren, dass Probleme bereits unter Umständen bestehen, wenn man noch das kleine, auf Hilfe angewiesene Kind seiner Eltern ist, obwohl sich die frühen, liebevoll verfassten Berichte beider Elternteile so interessant lesen! Und wir müssen begreifen, dass sich diese „Unpässlichkeiten“ nicht so einfach erklären und fassen lassen, weil auch die Eltern früher einmal kleine und hilflose Kinder gewesen sind und als solche waren auch sie auf die Liebe ihrer Eltern angewiesen. Vielleicht hatten auch sie Defizite hinnehmen müssen.

Auch in der Familie meines Mannes gab es dem kleinen Sohn gegenüber, bereits zu der Zeit, als er noch ein Baby war, solch ein missverständliches Verhalten, denn er hätte eigentlich, nach Ansicht seines Vaters, ein Mädchen werden sollen. Als dann die ersehnte Tochter einige Jahre später kam, waren alle Chancen des kleinen Jungen auf Besserung seiner Situation, wie weggeblasen. Der erwachsene Sohn, mein Mann, ist schließlich von der Familie ausgeschlossen worden, ja man könnte auch sagen, er wurde „weggebissen“. Manch einer freut sich über einen „Stammhalter“ und klagt, wenn sein Mädchen bei einer späteren Heirat den „guten“ Namen ihrer Herkunftsfamilie abgeben muss, andere ärgern sich über eine mögliche „männliche Konkurrenz“ des heranwachsenden Sohnes, der selbst zu einem „Rudelführer“ werden muss und gar nicht anders kann.

Dabei fühlen Frauen und Männer in Familienfragen sehr verschieden und viele Faktoren beeinflussen die Reaktionen. Heute weiß ich, dass für meine liebe Mutter schon damals weniger die Fakten, als die in ihr ausgelösten, negativen Emotionen zählten. Manche damalige Kränkung muss sie regelrecht gepflegt haben. Und so bin ich dann später stellvertretend für die „Verfehlungen“ meines Vaters in die Pflicht genommen worden. Meine Mutter beurteilt in erster Linie danach, wie sich etwas für SIE anfühlt. Die Beweggründe des „Übeltäters“ hält sie sich vom Leibe. Sorgfältig abgespeichert werden alle Animositäten gut konserviert und in ihrem empfindlichen Innersten bewahrt.  

Immer wieder bekam ich deshalb zu spüren, wohl eher nach meinem Vater als nach meiner Mutter geraten zu sein. Gewisse Charaktereigenschaften und Neigungen habe ich definitiv vererbt bekommen. Dadurch wurde ich zu „Vaters Tochter“ – aber ich suchte mir das nicht aus. In diesem Umstand liegt jedoch all unser tragisches, familiäres Konfliktpotential verborgen! Mit dem Tod des Vaters begann aus diesem Grund die Familie auseinander zu fallen. Erschwerend kam hinzu, dass die Wende, einhergehend mit dem Zusammenbruch der DDR, sämtliche Lebensläufe durcheinander wirbelte.  Was sich nicht in Worte fassen ließ, malte ich zu dieser Zeit auf zartestes, brüchiges Papier, so auch unser Ankommen in einer kleinen, dörflichen Gemeinde Potsdam-Mittelmarks, wo wir inmitten von Wiesen, Äckern und Obstbäumen eine neue Heimat für uns fanden.

Es sollte lange dauern, ehe die Farben wieder heller wurden. Im Zuge der verschiedenen Wohnortwechsel traten neue Menschen in unsere Leben, neue Wertvorstellungen und Ansprüche kamen hinzu und alte Erfahrungen mussten sich mit den aktuellen arrangieren. Wie jeder damit umging definierte sich über die jeweilige Haltung und diese richtete sich auch nach den Möglichkeiten, die man hatte oder nicht hatte. Ein „weites Feld“ … würde Fontane sagen.

Vieles wäre auch „familienhistorisch“ betrachtet anders verlaufen, wenn der Vater nicht derart früh als Familienoberhaupt ausgefallen wäre und wenn er heute noch unter uns Lebenden weilte. Rudolf Gustav Sauer hätte die Familie beieinander gehalten, da bin ich mir sicher – und das „schwarze Schaf“, von dem meine Mutter behauptet, ich würde mich selbst dazu machen, hätte er in Schutz genommen. Aber nun ist meines Vaters Familie Geschichte. Mit diesem Text knüpfe ich sein Leben an meines und versuche auf diese Weise, wenigstens zu seinem 85-igsten Geburtstag, ein kleines Licht für ihn zu entfachen. Die qualvollen Bemühungen, sämtliche Irrtümer auch im Namen meines Vaters zu korrigieren, stelle ich nun ein. Ich habe einsehen müssen, dass dies vergebliche Liebesmüh ist. Alles das, was einer Mehrheit dienlich ist, benötigt nämlich keine Korrektur, im Gegenteil! Die im wahrsten Sinne des Wortes „eingefrorene Liebe“ schützt jene, die genau wissen, wo das Unrecht zu Hause ist.

Manchmal fühle ich mich, als säße ich mitten im Theater, sehe den wortgewandten „Iago“ aus Shakespeares „Othello“ direkt vor mir und denke, diese weniger schönen Erfahrungen, die ich machen musste, haben aber auch ihr Gutes, denn sie wirkten sich auf mein weiteres Leben aus, wie ein Bad in „Drachenblut“ : Ich mag keine „Spielchen“, spüre Manipulationen und lasse Täuschungsmanöver abgleiten. Ich habe ein gesundes Misstrauen jeglicher Idealisierung gegenüber entwickelt. Die direkte, von gegenseitiger Achtung geprägte, offene Ansprache von Mensch zu Mensch, ohne jede Erwartungshaltung, halte ich für die einzig wahre.

Unsere kleine Göhlsdorfer Familie steht nun schon seit Jahren allein. Dafür ist in zuverlässiger Weise gesorgt worden. Doch wir haben gelernt damit umzugehen und nun ist es, wie es ist!

Immer, wenn ich zu Vater auf den Friedhof gehe, schaue ich an dem starken Stamm des Eichenbaumes hinauf, der dicht neben seinem Grab in den Himmel ragt. Als ich vor längerer Zeit einmal bei strahlendem Sonnenschein dort gewesen bin, erfreute ich mich an einem herrlichen Blau, das an jenem wunderschönen Tag, zwischen seinen filigranen Zweigen hing. Ich dachte, des Baumes Wurzeln werden in Kontakt zu meinem Vater stehen und seine Energie in die vielen Zweige leiten, was ein tröstlicher Gedanke ist. Das Grün ihrer Blätter im Frühling liest sich dann, jedes Jahr wieder, wie eine Botschaft der Hoffnung für mich. In den Tagen vor Weihnachten brachte ich ihm eine Christrose und setzte sie, gut beschützt, in einen gebundenen Kranz aus Tannenreisig. Sie blüht derzeit wunderschön. Bei einem Besuch etwas später ließ ich ihm zwei Schnittrosen da. Als ich kürzlich wieder vorbeischaute, standen sie noch immer, wie frisch aufgestellt.

Diese beiden Rosen, eine in Zartrosa steht für mich, die andere in Orangerot für meinen Mann, gestalten sich, bei aller Zartheit, verblüffend zäh und sie erscheinen mir bei diesen winterlichen Temperaturen (gut abgehärtet!) sogar viel haltbarer und blühen sogar noch besser, als sie es bei (allzu gemütlicher!) Wärme zu tun pflegen. Vielleicht sind sie am Valentinstag, zu seinem Geburtstag, dem 85-zigsten, noch immer am Blühen.

Maren Simon, in Gedanken – nicht nur bei meinem Vater, zum 14. Februar 2019

 

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