Abschiednehmen

Abschiednehmen zu müssen von Vertrautem ist allgegenwärtig.

Die Hitze wütete ungemein heftig und Wälder brannten sogar. Mir tut es um die Bäume leid, die dieser Hitze so schutzlos ausgeliefert sind und nun vermehrt zusätzlich zur sommerlichen Trockenheit, mit Pilzen und Parasiten zu kämpfen haben. Wenn ich unterwegs bin, sehe ich überall rote Punkte, aufgesprüht auf Baumrinde bedeuten sie den Tod. Dabei wirken manche nicht krank auf mich, im Gegenteil, sie wirken mitunter sogar recht stattlich, sollen aber trotzdem fallen. Mich macht das traurig. Anstatt die alten Bäume einfach umzuhacken, sollte man ihnen eine Chance geben, sich anzupassen. Jeden möglichst zu erhalten, das wäre die richtige Option.

Schlimmer als diese Hitze ist jedoch das dauerhaft fehlende Nass von oben. Der Garten geht mit der Trockenheit aber sehr souverän um, aus den vorangegangenen Trockenperioden der letzte Jahre, muss er gelernt haben! Ich staune und sehe, wie sich die Kräuter, Bäume und Sträucher gegenseitig in Schutz nehmen. Während die unterste Schicht, die direkt am Boden wächst, jedes bisschen Feuchtigkeit speichert, spendet das schützende Blätterdach von oben, hilfreichen Schatten.

Jetzt wird überdeutlich, dass Stein und Beton als Lebensraum nichts taugen, denn sie heizen sich zu lebensfeindlichen Zonen auf. Aber eine saubere und glatte, leicht zu reinigende Oberfläche, zieht der ordentliche Gärtner leider jeder natürlichen, die auch mal „schmutzen“ kann, selbst bei dieser schweißtreibenden Sonnenhitze, vor. Ich kann solch Handeln nicht nachvollziehen. Wir haben schon sehr früh begriffen, dass wir uns mit einem grünen Gürtel ums Haus herum, eine kühlende Oase schaffen würden und diese Ahnung bestätigte sich in diesem Sommer auf eine besonders eindringliche Weise. Grün schützt! Deshalb lassen wir es auch bewusst zu, dass die Vegetation ganz nah an uns heran darf. Wenn Besuch im Sommer kommt, ist die erste Feststellung immer dieselbe: „Ach, ist das aber angenehm kühl bei euch.“

Das zarte, grüne, feingliederige Laub hat die schützende Wirkung einer Kathedrale, sanft leuchtet dies Grün bei Sonneneinwirkung in allen Schattierungen, von Gelbgrün bis hin zu Rottönen und wunderbar zart hängen glitzernd die Tropfen darin, wenn es denn einmal regnet! Wir leben mit Grün und wir leben auf eine sanfte Weise beschützt darin, wir sind eingebunden in einen wundervollen Wachstumsprozess und sind auch den Tieren somit ganz nah. Aber einige Menschen fürchten eben gerade diese Nähe. Das wuchernde, krautige Grün schürt tiefste, verborgen geglaubte Urängste, doch es hält die Hitze von den Hauswänden fern, es schützt und kühlt, aber es fordert auch seinen Raum zum Wachsen und Gedeihen. Perfekt wirkt diese grüne, natürliche „Klimaanlage“ in Verbindung eines Hauses mit Keller: wenn man die kühle Luft von unten nach oben durchs Haus führt und aus den oberen Fenstern angewärmt nach draußen entlässt, entsteht ein angenehmer Kühlungseffekt mit leichter Luftbewegung.

In diesem Zusammenhang möchte ich mein Bedauern darüber zum Ausdruck bringen, dass unsere Hausbaufirma HAACKE – HAUS leider Insolvenz anmelden musste, was ich gar nicht verstehen kann. Jetzt, wo diese leicht gebauten Häuser das Versprechen des Herstellers einlösen, da will sie keiner mehr haben? Wir sind zufrieden in unserem, es ist, wie oben beschrieben, ein sehr angenehmes Wohnen, selbst unter diesen extremen Bedingungen! Ich hoffe darum von Herzen, es findet sich ein neuer Investor, der einen Weg sieht, die mit vielen Auszeichnungen bedachte Firma, am Leben zu erhalten.

Zurück zu meinem Thema. Was ich andeuten wollte ist doch, dass nur der, der bereit ist, sich ohne Vorbehalte auf die Natur einzulassen, von ihr belohnt wird. Tiere können einem dabei helfen, sich dem Natürlichen hier wieder ein Stückchen anzunähern. Sie bauen die Brücke, auf der der Mensch gehen kann, der verlernt hat, sich als ein Teil seiner Umwelt zu empfinden. Allerdings muss man Vertrauen haben und es gegebenenfalls auch zulassen, eventuell etwas an Kontrolle zu verlieren.

Unser alter Kater zum Beispiel, der hatte von Beginn an Wert darauf gelegt, immer er selbst bleiben zu wollen. Im Sommer lebte er draußen, im Winter mit uns gemeinsam, drinnen im Haus. Als fertiger Katz tauchte er erstmals im Frühling des Jahres 2000 in unserem Garten auf und brauchte Hilfe. Er bekam sie und entschloss sich daraufhin zu bleiben. Wir freuten uns über so viel Vertrauen seinerseits. Ein eigenartiges, gestanztes Loch im Ohr verriet uns aber, dass er bereits ein bewegtes Leben hinter sich zu haben schien. Ganz jung an Jahren, muss er als Streuner gelistet worden sein, dem man in Folge dessen, seine Fortpflanzungsfähigkeit genommen hatte und dieses Loch im linken Ohrzipfel, es war wohl das Erkennungszeichen dafür.

Micio hatte sich, trotz seiner weniger schönen Erfahrungen, einen wunderbar sanften Charakter bewahrt und er besaß Würde. In Würde wollte er sich auch von dieser Welt verabschieden, das war sein Plan, aber ein Schlaganfall vereitelte ihm diesen und so blieb es an mir, in seinem Sinne zu handeln. Das bedeutete für mich, seinen Sterbeprozess zu begleiten, ihn aber nicht gänzlich bestimmen zu wollen. Der Kater ist alt geworden, wir wissen nicht genau, wie alt, wir schätzen aber, 20 lange Jahre sind es sicherlich. 18 Jahre ist es her, dass wir uns kennen lernten. Er hatte sich seine Familie selbst ausgesucht und ich war all diese Jahre über, seine wichtigste Bezugsperson gewesen und er vertraute mir so, wie ich ihm. Ich hegte die leise Hoffnung, unser „Stehaufmännchen“ würde es vielleicht wieder einmal schaffen, sich zu berappeln, wie in der Vergangenheit schon so oft geschehen.

Nicht wissend, was unser Kater schon alles erlebt und wie viele seiner „sieben Leben“ er bereits aufgebraucht hatte, überschattete dieses Hoffen die Realität. Es gibt Katzen, die werden 23 oder sogar 25 Jahre alt und so gut, wie Micio jetzt aussah, so gut sah er in seinen besten Zeiten als Draufgänger mit häufig angestaubtem Fellchen, nicht aus. Ich wollte nicht wahrhaben, dass so manche Katze nicht sehr alt wird und dass die durchschnittliche Lebenserwartung einer autonom lebenden Straßen- beziehungsweise einer Draußenkatze, lediglich bei 8 Jahren liegt. Ich blendete diese Tatsache erst einmal aus. Bis zu dem Tage, an dem sich der Gedanke, in liebevoller Verbundenheit Sterbehilfe leisten zu müssen, bei allem Schmerz über den Verlust des geliebten Kerlchens, in mein Herz bohrte.

Denn plötzlich steht man am Lager des Kranken und sieht, dass es nie mehr gut werden wird und man fragt sich, inwiefern man sich einmischen darf in diesen natürlichen Prozess des Sterbens, weil es die alte Lebensqualität im wörtlichen Sinne, nicht mehr geben wird. Auch Tiere fühlen Schmerzen, genauso, wie wir. Leise klagte unser armer, schwarzer Kater und er stöhnte ab und an, wenn er glaubte mit sich allein zu sein. Manchmal dachte ich und fühlte so etwas wie Trost, er würde seine starken Schmerzen vielleicht einfach verschlafen, so ruhig atmete er mitunter, doch sobald er meine Anwesenheit spürte, mauzelte er. Es hörte sich für mich so an, als wollte er mich auf diese Weise darüber hinweg trösten, bald ohne ihn zu sein. Seine tiefen Seufzer zwischendurch und die Traurigkeit in seiner Stimme, ergriffen mein Herz in einer Heftigkeit, dass ich mich schließlich dazu entschloss, ihn von seinem Leiden endlich erlösen zu lassen.

Am Morgen des sonnendurchfluteten, 23. August, schlief er im Garten sanft und friedlich unter den jungen Händen seiner freundlichen Tierärztin, ein.

Die Vögel bekamen diese letzten Vorgänge um unseren Kater natürlich auch mit und es war, als nähmen sie Anteil an unserer Trauer. Das muss sich witzig anhören, ich weiß, aber der alte Kater stellte ja auch in seinen letzten Lebensjahren keine Gefahr mehr für sie dar! Im Gegenteil, er war im Garten zu einer festen Größe geworden und er gehörte zu uns dazu. Wenn er an ihren Wasserschalen vorbei wackelte, badeten die Meisen trotzdem weiter und die Amsel zog neben ihm im Grase, ihren Wurm aus der Erde. Jetzt fehlt der alte Kater und so wurden alle Vögel für ein Weilchen, ganz still. Sie haben, wie absurd, ihren besten Beschützer verloren! Die vielen Katzen der weitläufigen Nachbarschaft kommen nämlich seit des Katers Tod ungeniert und schnüren vermehrt durch sein ehemaliges Revier! Leicht überheblich wirkend, gehen sie federnden Schrittes in seinem Garten auf und ab und – auf Jagd. Endlich ist der Alte fort! Und so gepflegt, unordentlich und katzenfreundlich ist es nur hier, würden sie sagen, wenn sie es könnten. Uns ist aufgefallen, dass jetzt sehr viele Vögel plötzlich ihre Schwänze eingebüßt haben, was recht komisch aussieht, sie alle sind scheinbar gerade noch so, mit dem Leben davon gekommen!

Nur ein junger, schöner und ebenso schwarzer Kater, wie unserer es früher einmal gewesen ist, der scheint tatsächlich um unseren alten Katz zu trauern! Er war auch der letzte Besucher am Krankenlager gewesen und er kommt noch immer regelmäßig vorbei, um nachzuschauen, was in Micios Revier passiert. Er positioniert sich dann ein Stück abseits von uns und sieht mich sehr lange, sehr nachdenklich und durchdringend an. Unsere  schwarzen Katzen unterhielten sich gern in den Abendstunden und saßen dazu gemeinsam auf der Terrassenbank, um über die Dinge des Lebens im Allgemeinen und die des Erwachsenwerdens im Besonderen, zu philosophieren. Beide Katzen tauschten sich bestimmt, das ein oder das andere Mal, über ihre Menschen und die dazugehörigen Familien aus, vielleicht waren Micio und sein Freund sogar miteinander verwandt.

Unser Kater Micio ist früher der Lehrmeister des Jüngeren gewesen und ich denke, nur er allein wird wissen, ob ich in des alten Katers Sinn handelte, oder ob womöglich, dagegen.

Bedrückende Fragen ohne Antworten, sie werden bleiben.

Maren Simon, sehr traurig, am 29. August 2018

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